Eine kurze Geschichte vom Vorwerk Nickern
Die Geschichte des Vorwerks in Nickern beginnt weit weg von Nickern um 912, als erstmals ungarische Reiternomaden auf ihren jährlichen Beutezügen bis in das Heilige Römische Reich Deutscher Nationen, und zwar nach Bayern vorstoßen. (Link) Der König ist geschockt und sichert die Grenzen nach Bayern. Die Ungarn kommen trotzdem weiter jedes Jahr und nehmen die Pässe über das weitgehend unerschlossene Erzgebirge als ungesichertes Einfallstor. Auch das heutige Nickern lag an solch einem Passweg.
926 konnte König Heinrich I. ein zeitweises Abkommen mit den Ungarn schließen, die Überfälle wurden für einige Jahre gegen eine hohe jährliche Tributzahlungen eingestellt.
Die gewonnene Zeit nutzten der König für die Aufstellung einer schlagkräftigen und äußerst beweglichen Truppe, die den Ungarn Paroli bieten sollte.
Mit dieser neuen Armee wurde in der Folgezeit, quasi als Manöver und Training, Eroberungsfeldzüge in die bisher noch nicht christianisierten slawischen Siedlungsgebiete zwischen (Nieder-)Sachsen, Thüringen, Böhmen und Polen geführt. Damit wurden zwei strategische Ziele erreicht: Die neu aufgestellte Armee und insbesondere die neuen Panzerreiter wurden eine eingespielte Truppe und die möglichen Einfallsrouten der Ungarn wurde mit gut zu kontrollierenden Burgen abseits der Siedlungspunkte gesichert und versperrt – die neuen Herren misstrauten den einheimischen wilden Heiden und hatten wohl auch einen gewissen Respekt vor diesen – nicht ganz unbegründet, wie sich später zeigen sollte. Auch wurden Straßen und Brücken errichtet, um schnell Truppen entlang der Grenze verlegen zu können. Für die Burganlage in Nickern gibt es keine Nachweise aus dieser Zeit, aber sie passt in den Typus dieser Anlagen.
955 wurden die Ungarn unter Otto I. in der Schlacht auf dem Lechsfeld entscheidend geschlagen, die Zeit der Ungarneinfälle war damit vorbei. Das Interesse an den neu gewonnen Ländereien schwand. In der Folge erhoben sich in den eroberten Gebieten die Slawen 983 (Link) und gewannen Teile ihrer Autonomie zurück. Die Burgen blieben aber teilweise im Grenzland in Betrieb.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Finanzierung dieser Feldzüge. Die Beteiligten refinanzierten ihre Aufwände aus der Beute der Feldzüge, und die bestand im Wesentlichen aus Sklaven. Und bei diesem Geschäftsmodell blieb es über die nächsten Generationen. Die Gegend wurde regelmäßig nach neuen Sklaven durchkämmt. Bedeutende Umschlagpunkte für die neuen Sklaven waren unter anderem in Prag und bei Halle. Die Frauen und Mädchen wurden in die wohlhabenden Haushalte nach Byzanz, Ägypten und das (muslimische) Spanien als Haushaltshilfen verkauft, die Männer und Jungen als Soldaten gepresst oder in die Landwirtschaft nach Italien verkauft. (Link)
Trotz oder gerade wegen der Sklavenjagten kam die Kirche mit der Christianisierung der Slawen voran. Christen durften nicht versklavt werden. Je umfangreicher die Christianisierung voranschritt, desto besser waren die Menschen vor den Sklavenhändlern geschützt.
Die Burggrafen und Lehnsnehmer in den eroberten Gebieten mussten so andere Einkunftsarten erschließen und so wurde mit dem Rückgang des Sklavenhandels gleichzeitig die Gegend wirtschaftlich erschlossen, im Wesentlichen auch durch die erstarkende Kirche mit ihrer eingespielten Organisation.
Spätestens im 12. Jahrhundert wurden keine Sklaven mehr ausgehoben, dafür aber Felle und Leder exportiert (Leipzig), Steinkohle (Dresden), Silber und Zinn (Freiberg) abgebaut und Wolle, Flachs und Leinen (Bautzen) produziert.
Die Dörfer, in denen diese Produktion stattfand, mussten verwaltet und kontrolliert werden. Die vorhandenen, abseits gelegenen Burgen aus der Ostexpansion 200 Jahre zuvor und die wenigen neu gegründeten Städte waren dafür zu schlecht gelegen. Also wurden in die vorhandenen und neuen gegründeten Dörfer Verwalter eingesetzt, die direkt vor Ort die Herrschaft vertraten, Rechtssachen ordneten, Abgaben einzogen und die Weiterverarbeitung der Rohstoffe organisierten.
Die Höfe und Wohnsitze dieser Verwalter wurden ab dem 16. Jahrhundert in der Region zwischen Riesa und Bautzen Vorwerke genannt. Später wurden auch andere Begriffe wie Beigut genutzt, aber Vorwerk hatte sich regional etabliert.
Und so hatte auch Nickern sein Vorwerk.
Da es in Nickern – eine seltene Situation – neben dem Vorwerk auch eine Burg gab, gab es Vorwerk und Burg, später Schloss, immer im Paket. Bereits in der ersten urkundlichen Erwähnung von Nickern 1299 in einer Urkunde des Bischoff von Meißen wurde Burg und Vorwerk (castrum et allodium) als Paket verliehen. Und daran sollte sich die nächsten knapp 700 Jahre nichts ändern.
Um 1720 in der Folge der Landflucht der vermögenden städtischen Bevölkerung aus Dresden wurden auch in Nickern mehrere Gebäude umfangreich umgebaut, im Vorwerk wurden vor allem im Haupthaus aufwendige neugotische Fachwerkwände und Holzdecken eingebaut. Das Vorwerk erlebte eine Blütezeit, doch muss das Geld kurze Zeit später auch wieder knapp gewesen sein. Die Unterlagen und Zeugnisse aus diesen Änderungen sind spärlich. Über die Bewohner und die Geschäfte ist nichts bekannt.
Um 1920 wurde die Straße Am Geberbach vor dem Vorwerk erweitert, um hier bequemer mit Fuhrwerken einbiegen zu können.
In den 1930er und 40er Jahren wurde das Vorwerk nach mündlicher Überlieferung teilweise zu einem Treffpunkt der Hitlerjugend ausgebaut und für die paramilitärische Ausbildung der Kinder und Jugendlichen genutzt.
Der letzte Herr von Schloss und Vorwerk Karl Crauss veräußerte Stück für Stück die landwirtschaftlichen Grundstücke, die mit Wohhäusern bebaut wurden. Er wurde nach Ende des Krieges 1945 enteignet. Von seinem Schicksal ist nichts weiter bekannt. Schloss und Vorwerk erlebten nach der Enteignung eine getrennte Geschichte.
Das im Krieg schwer getroffene Vorwerk wurde von den neuen Eigentümern notdürftig geflickt und überwiegend in Mietswohnungen aufgeteilt, die Ställe wurden noch für Schweine und Kleinviehhaltung genutzt, die Lumpenhandlung der Familie Zielinski hatte hier über lange Jahre ihren Geschäftssitz.
Unmittelbar neben dem Vorwerk auf dem Gelände einer Militäranlage aus den 1930ern entstand eine der größten Panzerkasernen der Region. Hier war das sowjetische 249. Garde-MotSchützenregiment stationiert, mit mit 34 x T-80, 90 x BMP (1 und 2), 20 x BTR (60 und 70), 18 x 2S1 „Gwozdika“, 6 (12) x 2S12 „Sani“. (Link) Die Umgebung der Kasserne wurde durch die häufigen Übungen, Transporte, zerstörte Straßen, Lärm und Abgase zunehmend unattraktiv. Die Soldaten nahmen am öffentlichen Leben nicht teil, fielen aber auf, wenn sie in der Nachbarschaft illegal Waffen und Munition gegen Schnaps und Lebensmittel eintauschen wollten.
In den 1980er Jahren wurden die maroden Häuser in Nickern Stück für Stück aufgegeben. Auch im Vorwerk wurde es ruhiger, die Dächer waren in großen Teilen defekt, das Fachwerk verrottete, die sanitären Anlagen waren hoffnungslos veraltet, die Abbortgruben undicht, die Fundamente rutschten unter den Häusern langsam in sich zusammen. Mit dem Weggang der Bevölkerung verblasste auch das Bewusstsein um das alte Vorwerk.
Die wilden Grundstücksspekulationen der 1990er Jahre nach der Revolution im Osten Deutschlands brachten für das Vorwerk eine Phase von mehrfachen Besitzerwechseln und des völligen Verfalls. Die Mieter waren endgültig ausgezogen, die Gebäude zum Großteil nicht mehr betretbar. Das Grundstück war mehrfach mit Hypotheken beliehen, die weit den Wert des völlig ruinösen Grundstücks hinausgingen. Der letzte Besitzer Lothar Dietrich hoffte auf ein Wunder. Der Laden war bankrott. Das Vorwerk war aus der Erinnerung verschwunden.
2006 wurde das Vorwerk dann an Martin Pätzug verkauft und mit privaten Mittel schrittweise wieder restauriert und modernisiert. Heute sind in den Gebäuden wieder Büros und Wohnungen eingerichtet. Auch die Geschichte wurde wieder neu aufgearbeitet und das Vorwerk als Pendant zum Nickerner Schloss wieder ins Licht und in das Bewusstsein der Dresdner gerückt.
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Martin Pätzug
c/o Vorwerk Nickern
Am Geberbach 1
01239 Dresden
martin.paetzug@dresden-coworking.de